Leseprobe von Martina Behnisch

(Auszug)

                                                           Die Countdownuhr

Tagebucheintrag 3: Kind/Tochter

Meine Mama benimmt sich zur Zeit so komisch, sie verschwindet öfters in ihr Zimmer, manchmal beim Abendbrot und manchmal beim Spielen, einmal habe ich sie verfolgt und durch das Schlüsselloch geschaut, sie hat geweint und ich wusste nicht wieso.
Habe ich irgendwas falsch gemacht, das macht sie immer, wenn ich sie was bestimmtes frage, mache ich sie dadurch traurig, das wollte ich nicht. Letztes Mal am Küchentisch habe ich ihr gesagt, dass, wenn ich groß bin, ich genauso stark und schön sein will wie Mama und dann ist sie rausgerannt, darf ich etwa keine Komplimente machen, hasst sie mich vielleicht sogar, vielleicht möchte sie gar nicht, das ich so groß werde, ich weiß es nicht, aber es muss mit mir zu tun haben, warum sonst, redet sie nicht mit mir?

Meine Mama ist zur Zeit immer so traurig, sie weint sehr viel, ich habe bestimmt irgendwas falsch gemacht, sie hat letztes Mal gesagt, dass es wegen mir ist.
Sie wird nicht sehen, wie ich…


Tagebucheintrag 4: Mutter

Ich weiß nicht, warum ich in dieses Buch schreibe, es wird doch sowieso nichts mehr von mir übrig bleiben, angeblich soll es aber helfen, das aufzuschreiben, was einen so quält.
Ich kann nicht mehr schlafen, ich bekomme immer mehr Panikanfälle, nur daran zu denken macht mich schon kaputt, ich ertappe mich immer wieder bei den Gedanken, alles verdrängen zu wollen, es kann nicht stimmen, es gab so viele Filme, wo einer gewarnt wurde, wo gezeigt wurde, was passiert, wenn wir weiter so mit der Welt umgehen. Aber niemand hält für möglich, dass es dann tatsächlich passieren kann und was machen wir jetzt? Seitdem es bekannt wurde, ist so viel geschehen.
Ich habe eine kleine Tochter und mir wird schlecht, wenn ich nur daran denken muss, sie nicht mehr aufwachsen zu sehen, in einer funktionierten Welt. Ich versuche, ihr keine Angst zu machen, ich versuche, alles zu beschönigen, aber ich befürchte, das gelingt mir nicht sehr gut, Kinder haben einen sechsten Sinn dafür. Sie hatte mich vor einiger Zeit gefragt, warum ich ständig so traurig schaue, sie hat mich sogar weinen gesehen, also nicht mal das kann ich vor ihr verbergen, tatsächlich bin ich gerade ein seelisches/psychisches Wrack und schaffe es nicht mehr, eine Fassade aufrecht zu erhalten. Das Einzige, was ich will, ist, mich nicht mehr von dieser Uhr abhängig zu machen, gerade am Anfang starrte ich noch ständig drauf, aber es hat mich immer mehr verrückt gemacht, zu wissen, wann es wirklich vorbei ist und deshalb habe ich mich entschieden, sie für immer wegzusperren. Ich habe den Fernseher abgestellt und alles was darauf hindeuten könnte, aus unserem Leben verbannt. In dieser Zeit ist es schwer, zur Arbeit zu gehen, es ist schwer überhaupt noch einen normalen Alltag hinzubekommen, denn was ist noch wichtig, wenn es uns sowieso bald nicht mehr gibt. Ich gaukle meinem Kind ein normales Leben vor, ich versuche sie zu schützen. Ich sage ihr, dass sie erstmal nicht raus gehen darf/ ich habe mich mit anderen zusammengetan und wir alle haben beschlossen, unser Leben so gut es geht weiterzuleben, auch wenn ich mich noch dunkel erinnern kann, dass diese Countdown-Uhr anzeigt, dass wir auch bald dran sind. Ich kann auch nicht fliehen, denn ich weiß, dass es überall passiert, wie in diesem Film 2012 oder andere Katastrophenfilme, deshalb werden wir so lange hier bleiben, bis es zu spät ist und die Kinder werden von allem nichts mitbekommen.