In der Vitrine
Der Teddybär in der Vitrine ist nicht immer ein Teddybär.
Wenn die Tür endlich zufällt und der Schlüssel sich im Schloss dreht, wenn alles Lebendige den Raum verlassen hat, verändern sich die Fäden des Teddybären. Sie ziehen sich zurück und treten deutlicher hervor, ummalen einen anderen Umriss.
Dann ist der Teddybär eine ausgestopfte Urzeitschnecke. Flauschiges Fell hat sich in ledrige Schale verwandelt, aber die Fäden, die den Körper zusammenhalten, sind die gleichen.
Wenn die Tür wieder aufschwingt und die Vitrine geöffnet wird, ist die Urzeitschnecke ein Buch – ein antikes mit vergilbten Seitenrändern und hie und da einem Knick. Nichts an dem Buch gleicht der ausgestopften Urzeitschnecke, nicht einmal seine ledrige Hülle, aber die Fäden, die das Werk binden, sind die gleichen.
Als die kleine Mädchenhand sich durch die offene Seite der Vitrine streckt, ist das Buch wieder der Teddybär. Sie legt sich vorsichtig auf das weiche Fell und fühlt ein merkwürdiges Summen aus dem Inneren des Stofftiers dringen, als würden Dutzende von Bienen versuchen, ihm zu entkommen.
Trotz des komischen Gefühls weicht die Hand nicht zurück, sondern schließt sich fest um den Bären und hebt ihn aus seinem Ausstellungskasten heraus. Das Rot seiner Fäden verblasst.
„Du musst jetzt nicht mehr allein sein“, sagt ihm das junge Mädchen und drückt ihn fest an sich.
In den düsteren Räumen des Sammelmuseums waten nur noch vereinzelt Menschen umher, fast wie betäubt und zu gebannt von den außergewöhnlichen Kunstobjekten, um die zierliche Gestalt zu bemerken, die sich hinter ihnen wegstiehlt, während sie eines dieser Objekte fest umklammert hält. Nachdem das Mädchen eine vermeintlich unbemerkbare Nische unter einer der Treppen gefunden hat, wagt sie sich endlich, dem Teddybären etwas Freiraum zu geben, und setzt sich ihm mit einem neugierigen, aber ernsten Blick gegenüber.
„Jetzt sag mal… Warum wollen sie dich überhaupt einsperren?“, fragt sie nach einem stillen Moment.
Das Kuscheltier schaut sie wortlos an. Seit es die Vitrine verlassen hat, ist es nicht mehr ganz das gleiche.
„Okay, okay, du musst nicht antworten, ruh dich erst mal aus“, erwidert sie schnell, Ausschau haltend nach möglichen erwachsenen Bedrohungen…
„Du siehst alt aus. Du warst bestimmt lange allein. Ich kenne das…“, flüstert sie und hebt zu einer wichtigen Frage an, als eine helle Männerstimme ertönt.
„Hier bist du ja, meine Kleine, ich dachte, du wärst noch in dem Raum mit dem großen Glaskasten!“ Der Vater des Mädchens hockt sich neben sie. „Na, was hast du denn da gefunden? Der sieht aber alt aus…“
Das Mädchen rollt genervt die Augen und versucht, ihre neue Entdeckung mit ihren Händen zu verbergen. Erwachsenen gefällt es nicht, wenn man ihre Ordnung stört, denkt sie sich.
„Du meine Güte, ist das ein Ausstellungsstück?“, geht es dem Vater auf einmal entsetzt auf. Das Mädchen rollt wieder die Augen – hat sie doch gesagt.
„Einer der Besucher meinte gerade, ein Mitarbeiter hätte etwas Wichtiges verloren; ich hätte nicht gedacht, dass es ein Kuscheltier ist… Lass es uns schnell wieder zurückbringen!“, meint der Vater aufgeregt. Hastig greift er sie beim Arm und zusammen bringen sie den Teddybären wieder zurück zu der Vitrine, aus der er gekommen war. Als das Mädchen sich von ihm verabschiedet und ihn sorgfältig wieder in den Kasten hineinsetzt, ist es ein bisschen als würde der Bär aufatmen. Seine Fäden leuchten jetzt wieder kräftiger.
Kurz ist der Vater verdutzt – war da schon die ganze Zeit dieses zarte Segelschiffsmuster auf dem Fell des Kuscheltiers? Seine Gedanken schweifen hinweg zu diesem grenzenlosen Meer, auf dem er
sein Leben verbringen wollte, und zu den dunklen Wellen, die er jetzt schon so lange nicht mehr an den Bug seines Schiffes prallen gespürt hat; doch dann fängt er sich wieder.
In den umliegenden Räumen wuseln alle in heller Aufregung herum. „Das Buch! Haben Sie es gesehen!“, ruft der Museumsmitarbeiter mehr entrüstet als fragend, als sie aus dem Raum treten, und stürmt an den beiden vorbei Richtung Vitrine. Der Vater des Mädchens runzelt kurz die Stirn, aber ehe er sich über die fehlende Ähnlichkeit zwischen einem Buch und einem Teddybären mit Segelschiffsmuster wundern kann, tönt die Stimme des Mitarbeiters aus dem Saal hinter ihnen: „Es ist wieder da!“
Die anderen Besucher und Museumsmitarbeiter atmen erleichtert auf, auch wenn sich die Anspannung noch nicht ganz aus der Luft löst.
Das Mädchen vermisst den Teddybären sofort.
Der Museumsmitarbeiter ist ein Kurator. Lange bevor das Mädchen das Museum betreten hat, wartet ein Mann vor seinem Büro. Der Mann trägt ein komisch sitzendes Sakko und auf einem Handkarren neben ihm befindet sich der großer Glaskasten, der ein altertümliches Schwert beinhaltet. Alle paar Minuten schwenkt sein gelassener Blick von der Tür kurz auf die kleine Uhr in seiner einen Hand, die andere Hand in der Hosentasche.
Auf einmal öffnet sich schwungvoll die Bürotür des Kurators, dessen Blick sich sofort interessiert an das potentielle Exponat haftet.
„Ich sehe, es geht also um ein Ausstellungsstück?“, kommt der Kurator direkt zum Punkt, ohne überhaupt nach dem Namen des Mannes zu fragen.
Dieser lächelt zufrieden und antwortet: „So ist es, es soll ein Geschenk ans Museum sein.“ Die Augen des Kurators weiten sich. Dann beugt er sich über die Vitrine und lässt seine Fingerkuppen über ihre Kanten fahren.
„Worüber ist es?“, wendet er sich nun neugierig an den Mann im komisch sitzenden Sakko.
„Das kann ich Ihnen nicht sagen“, bekommt er nur lächelnd als Antwort.
Unruhig verlagert der Kurator sein Gewicht von einem Fuß zum anderen. „Woher haben Sie es?“, fragt er nach einem nachdenklichen Moment.
„Es gehörte meiner Mutter“, beginnt der Mann im komisch sitzenden Sakko zu erzählen, „Ihr gehörte eine große Sammlung an seltsamen Dingen, diese Vitrine war das Herzstück.“ Das Lächeln des Mannes im komisch sitzenden Sakko erscheint wieder und steckt sein Gegenüber an.
„Vor drei Monaten ist meine Mutter gestorben“, reißt es den lauschenden Kurator dann aus seinem Tagtraum. Er drückt dem Mann durch ein Murmeln sein Beileid aus. Eine Schweigeminute entsteht.
„Wir durften es nie aus seiner Vitrine herausnehmen, vielleicht sollten Sie es auch lieber direkt in der Originalvitrine ausstellen“, ergreift der Mann im komisch sitzenden Sakko dann wieder das Wort.
„Woher hatte Ihre Mutter es?“, fragt der Kurator.
„Ich weiß es nicht.“ Ein nachdenklicher Blick.
„Was genau ist es?“, versucht der Kurator es noch einmal.
„Ich weiß es nicht.“ Die Augen des Mannes im komisch sitzenden Sakko funkeln jetzt. Dann traut er sich zu fragen: „Was denken Sie denn?“
Der Kurator denkt, dass die Frage mehr auf seine Expertise als Museumsmitarbeiter abzielt als auf ihn als Person, also antwortet er eifrig: „Nun, ich müsste mir das Buch schon näher ansehen, um zu erkennen, ob es gedruckt oder von Hand geschrieben ist, das würde schon einiges über seine Entstehungszeit aussagen…“ Er lässt den Satz bedeutungsvoll abschweifen, um sein Gegenüber zu beschwören, ihm das kostbar scheinende Stück endlich zu überlassen.
Der Mann im komisch sitzenden Sakko lächelt nur wieder, diesmal bestätigend, übergibt dem Kurator den den Handkarren, auf dem die Vitrine steht, und verabschiedet sich mit einem bloßen „Viel Glück!“.
Der Kurator wird den Mann im komisch sitzenden Sakko nie wieder sehen.
Der Kurator liebt Bücher, aber am meisten liebt er das Buch mit den vergilbten Seitenrändern, das jetzt vor ihm liegt, weil es das einzige in seiner Ausstellung ist. Es begeistert ihn, weil es scheinbar jeden Besucher auf eine eigene Weise verzaubert. Er hat schon Leute über Tücher und Perserteppiche, über Gemälde und Flugzeuge reden gehört, während sie vor dem großen Glaskasten standen, die sein liebstes Exponat normalerweise enthält.
Der Kurator kann immer noch nicht glauben, dass er es heute Nachmittag beinahe verloren hätte… Umso froher ist er nun, es wieder vor sich zu haben, um daran zu forschen.
Der Einband des Buches ist aus dunklem Leder und obwohl seine Oberfläche ziemlich abgewetzt ist, kann man darauf noch wenige Schriftzeichen und einen Anschein des ehemaligen Rankenmusters erkennen. Die Ränder der Seiten sind nicht nur gelblich verfärbt, sondern fühlen sich auch leicht gewellt und rau an. Am Buchrücken kann man einen Teil der ziegelroten Fäden sehen, aber auch die sind verblasst – zumindest findet der Kurator das im Licht seines Büros.
Weil sich dieses Buch erst seit verhältnismäßig kurzer Zeit in der Ausstellung des Museums befindet, ist es nicht sehr verwunderlich, dass der Kurator von ihm heute immer noch genau so wenig Ahnung besitzt wie als er es das erste Mal gesehen hat.
Er kann weder eine Notiz des Erscheinungsdatums noch des Verlags finden, mal davon abgesehen, dass seine Kollegen und er immer noch über die Schriftsprache rätseln. Auch den Glaskasten, der scheinbar von großer Wichtigkeit für die Haltbarkeit des Ausstellungsstücks ist, hat er noch nicht ganz verstanden, weil er keinerlei Technik für UV-Schutz oder Feuchtigkeitsregulierung aufweist. Trotzdem hält sich der Kurator daran, es in dieser Vitrine auszustellen wie der Mann im komisch sitzenden Sakko ihm angeraten hat. Es scheint ihm einfach das Richtige zu sein.
Tatsächlich stört es den Kurator nicht, so wenig über das Buch zu wissen, denn so kommt es ihm noch mehr vor wie ein lang verschollener Schatz vor, den er auf einem seiner imaginären Abenteuer oder einer ersehnten Weltreise gefunden haben könnte. Und obwohl er den Inhalt des Buches nicht lesen kann, hat er das Gefühl, von ihm noch mehr über die Welt erfahren zu können als durch jedes andere Buch. Es ist als spreche es zu ihm, erzählt ihm von der Vergangenheit und leitet ihm daraus die Zukunft her, vor der er sich so oft in die Räume der historischen Kunstobjekte flüchtet.
Er versucht, den Buchdruck zu identifizieren, eine bekannte Bindungsweise wiederzuerkennen oder das Alter des Papiers zu analysieren, aber wieder mal stellt er fest, dass er mit dem Verstehen des Buches nicht weiterkommt – und ist erleichtert.
Der Kurator hat schon seit einiger Zeit die Museumshallen verlassen, als die Tür zu dem Raum mit der großen Vitrine aufspringt. Die Hausmeisterin ist fast fertig für heute Nacht, die meisten Lichter hat sie geprüft und die breiten Flügeltüren zu den Hauptsälen hat sie abgeschlossen. Alle Museumsräume liegen nun im Dunkeln, ruhig, als würden sie gleichmäßig im Schlaf atmen – bis auf einen.
Hier, im Raum mit der großen Vitrine, beendet sie ihre Schicht, so wie jede Woche. Denn hier, in der großen Vitrine, liegt die ausgestopfte Urzeitschnecke. Sie sieht ledern und hart aus, und manchmal fragt sich die Hausmeisterin, ob die Urzeitschnecke nicht eigentlich versteinert sein müsste, wenn sie aus der Urzeit ist, und ob man dieses Wesen überhaupt „Urzeitschnecke“ nennt, aber in ihrem tiefen Inneren weiß sie selbst, dass sie auf all diese Fragen tatsächlich gar keine Antworten haben will.
Wenn die Hausmeisterin die Urzeitschnecke anblickt, muss sie an ihre Jugend denken: Wie sie damals so eine summende Euphorie auszustrahlen schien, genau wie die Urzeitschnecke es jetzt nach so langer Zeit noch tut, wie sie Paläontologie studieren und die Natur kennenlernen wollte. Die Hausmeisterin denkt, sie sei selbst Schuld, dass sie diese Euphorie nicht beibehalten hat, und
dass sie jetzt hier sitzt, in den letzten Jahren ihrer Berufstätigkeit, sich als eine Hausmeisterin abfindet und immer noch nicht ihren Sohn angerufen hat, mit dem sie sich vor zwei Jahren zerstritten hatte.
Für die Hausmeisterin ist die Urzeitschnecke ein Trost, jede Woche ein kleines Aufatmen und Seufzen zugleich. Und obwohl sie sie nach ihrer Schicht immer direkt wieder vermisst, freut sie sich jede Woche aufs Neue darüber, die ausgestopfte Urzeitschnecke in ihrer glänzenden Vitrine bestaunen zu können und sie gegenüber dem Kurator anzusprechen, der anscheinend ein Späßchen mit ihr treibt, indem er immer darauf beharrt, nicht zu wissen, welche Schnecke sie meint.
Einmal hatte sie überlegt, die Urzeitschnecke zu klauen und mit in ihr eigenes Leben zu nehmen. Aber dann hatte sie gesehen, wie der Kurator die Urzeitschnecke aus der Vitrine genommen hatte. Erst hatte sie sich gewünscht, an seiner Stelle zu sein, der strahlenden Urzeitschnecke auch so nah zu sein, aber das Ausstellungsstück hatte direkt seinen Atem verloren, sein Summen und sein Leuchten – und da hatte die Hausmeisterin gedacht, vielleicht ist die Museumsvitrine doch der beste Ort für die Urzeitschnecke; sie ist ja, wie der Rest des Museums, auch so Teil ihres Lebens.
Die Hausmeisterin zückt ihren Schlüsselbund und hebt verabschiedend die Hand – es ist Zeit, nach Hause zu gehen, das Telefon wieder in die Hand zu nehmen und diesmal wirklich ihren Sohn anzurufen. Sie kehrt der ausgestopften Urzeitschnecke den Rücken zu und schließt den Raum mit dem großen Glaskasten ab wie alle anderen Räume.
Als die Tür zufällt, ist die Urzeitschnecke in der Vitrine wieder das Buch. Wenn das Buch alleine ist, ist es wieder der Teddybär. Und das Segelschiff. Und das Schwert. Und die Tücher und Perserteppiche, Gemälde und Flugzeuge.
Doch die Fäden, die alles zusammenhalten, sind die gleichen.
Und der Teddybär vermisst das Mädchen, das Buch den Kurator und die ausgestopfte Urzeitschnecke vermisst die Hausmeisterin, sofort wenn die Tür zufällt – und alles Lebendige den Raum verlassen hat?
Paula Kaskel
Erst seit Kurzem in Magdeburg und beim LiteraThiem, aber schon seit Langem Geschichten und Gedichte geschrieben, wenn auch nur vereinzelt öffentlich vorgestellt.
Gedichte über komplexe Themen und noch komplexere Gefühle. Geschichten über fantastische Welten, die Heimat bieten und zum Hinterfragen, aber vor allem zum Träumen anregen sollen. 2001 geboren, in Dresden aufgewachsen, ausgestattet mit zahlreichen Hobbies und viel Lust auf Neues. Ein angefangenes Philosophie-Neurowissenschaften-Kognition-Studium und wenig konkrete Zukunftspläne, zu denen aber definitiv das Schreiben gehören soll.