Leseprobe von Ronja Gerdes

Berlin, vom Brocken gesehen

von Ronja Gerdes

Goslar, früher

An Charlottes achtzehntem Geburtstag trank ich Wodka. Anton, ihr Bruder, schenkte mir zwei Finger breit ein. Er rief nach ihr, fragte, ob sie auch etwas wollte, aber sie tanzte. Und wenn sie tanzte, konnte sie nichts erreichen. Die Hitze des Wodkas wanderte durch meinen Körper. Breitete sich bis in die Fingerspitzen aus.

Berlin, heute

Der Wodka kommt mir wieder in den Sinn – Jahre später –, als Anton die Wohnungstür öffnet. Er sieht müde aus.

»Hi«, sage ich. Möchte etwas hinzufügen, etwas Unverfängliches, doch ich finde keine Wörter.

Er sagt nichts, und ich trete an ihm vorbei in die Wohnung.

Ich hole tief Luft. Ich bin mit dem festen Vorsatz hier, ihm schnell meine Schlüssel zu geben, die Sache hinter mich zu bringen. Doch der Anblick der gerahmten Bilder im Flur lässt mich erstarren. Das Einschulungsfoto hängt noch hier: Charlotte und ich mit Schultüten im Arm auf einer Mauer, Schulter an Schulter, Hüfte an Hüfte, Knöchel an Knöchel.

»Möchtest du was trinken?«, fragt Anton.

Ich halte ihm den Schlüssel hin. »Bin gleich wieder weg.«

»Simi. Nur einen Moment.«

Ich seufze tiefer, als nötig wäre. »Wodka, bitte.«

Seine Mundwinkel zucken, beinahe lächelt er.

Brocken, früher

In unserer Schulzeit wanderten Charlotte und ich fast jede Woche auf den Brocken. Wir saßen immer auf dem gleichen Felsen. Als wir älter wurden, teilten wir uns meistens eine Zigarette, legten unsere Beine übereinander und ignorierten die glotzenden Touristen.

Es war ein besonderer Felsen: Brockengranit, das gibt es nirgendwo sonst. Der Brocken hat sogar ein eigenes Klima, und als wir nach ihrem Geburtstag auf dem Felsen saßen, trieb der Brockenwind die ersten Schneeflocken vor sich her. Unter uns erstreckte sich der Wald: blaue Tannen und schwarze Berghänge.

Trotz der schneidenden Kälte zogen wir die Handschuhe aus und knüpften unsere Freundschaftsbänder. Ich hatte blaue und rosafarbene Fäden für Charlotte ausgesucht, Charlotte rote und grüne für mich.

»Rot für die Liebe und Grün für die Hoffnung«, sagte Charlotte. »Weil ich hoffe, dass du die Liebe findest.«

Ich konnte nicht sagen, was die Farben bedeuteten, die ich für sie ausgesucht hatte. »Ich glaube, Blau und Rosa passen zu dir«, sagte ich.

»Schau mal nach Osten.« Sie streckte die Hand aus, als könnte sie damit die Wolken am Horizont beiseiteschieben. »Ich kann Berlin sehen.«

Ich schüttelte den Kopf. »Viel zu weit weg.«

»Ich kann es sehen.«

Die Haut unter meinen Fingernägeln hatte sich bläulich verfärbt, und ich pustete auf die Finger, bevor ich weiterknüpfte. »Kommst du in den Herbstferien wieder mit?«, fragte ich. »Meine Oma muss das bald wissen.«

»Nee.« Charlotte beugte sich zur Seite und flüsterte mir ins Ohr: »Ich fahre nach Berlin. Zum Casting.«

Berlin, heute

»Weißt du noch?«, fragt Anton, als er das Glas vor mir abstellt. »An Charlottes Geburtstag? Da haben wir Wodka getrunken.«

»War mein erstes Mal«, sage ich.

Er setzt sich nicht, lehnt sich an die Anrichte. Stößt nicht an, sondern nippt bereits an seinem Glas. »Simi, ist das wirklich die richtige Entscheidung?« Er holt tief Luft. »Du wolltest doch nie nach Goslar zurück.«

Ich trinke, und der Wodka brennt durch mich hindurch. Von der Straße wirbelt Motorenlärm herauf.

Anton streicht mit gespreizten Fingern das Haar zurück, bis es nach allen Seiten absteht. »Ich dachte, wir könnten vielleicht neu anfangen. Wenn wir bloß aufhören, über Charlotte zu reden …«

»Ich will nicht aufhören, über sie zu reden.« Ich nehme einen weiteren Schluck, einen größeren diesmal. »Und ich gehöre eben nicht nach Berlin.«

Nordsee, früher

Jeden Herbst besuchte ich meine Großmutter an der Nordsee. Zweimal war Charlotte bereits mitgekommen, doch meine letzten Herbstferien verbrachte ich dort allein.

Ich saß auf dem Sofa, einen heißen Kakao in der Hand, während der Sturm an den Fenstern rüttelte. Charlotte rief an, im Hintergrund das Zischen der Züge, das Stimmengewirr, die hallenden Gleisdurchsagen.

»Ich bin da«, sagte sie feierlich. »Ich bin in Berlin!«

»Toll«, sagte ich. »Wie hast du das Geld zusammenbekommen?«

»Sei keine Spaßbremse, Simi. Ich melde mich wieder.«

Als später mein Handy klingelte, war es nicht Charlotte, die anrief. Es war Anton.

»Weißt du, wo Charlotte ist?«, fragte er. Seine Stimme klang gepresst. Seltsam, wenn ich ihn nicht für einen so coolen Typen gehalten hätte – er war schließlich schon zwanzig –, hätte ich schwören können, dass er Tränen unterdrückte.

»Nein«, sagte ich. Mein Magen zog sich zusammen. »Keine Ahnung.«

»Sie war zum Abendessen nicht da. Sie geht nicht ans Handy. Meine Mutter …« Er atmete tief ein.

Eine schmerzende Gänsehaut breitete sich auf meinen Oberschenkeln aus, und ich rieb mit den Händen über den Jeansstoff, als könne ich sie dadurch vertreiben. Vor meinem inneren Auge erschien Charlottes Mutter Regina – wie sie, wenn sie die Treppe hinunterging, die Kante vom Foto berührte, das Charlottes Vater zeigte. Und das Schimmern in ihrem Blick. Seltsam, Mitleid mit einer Erwachsenen zu haben.

»Simone, wenn du weißt, wo sie ist, musst du es sagen.«

Mit schwitzigen Händen umklammerte ich das Handy. »Vielleicht kann ich etwas rausfinden.«

Berlin, heute

»Ich dachte immer, Berlin wäre dein Traum«, sagt Anton. Er berührt das Wodkaglas, lässt dann die Hand wieder sinken.

Ich nehme noch einen Schluck. »Ich konnte Charlotte und mich nicht auseinanderhalten.«

Goslar, früher

Charlotte kam früher als geplant aus Berlin zurück. Anton holte sie mit dem Auto ab, und ich befürchtete, dass er wütend auf sie sein würde. Oder sie auf mich.

Ich kehrte auch früher als geplant nach Goslar zurück. Charlotte antwortete nicht auf meine WhatsApp-Nachrichten und ging nicht ans Telefon. Also lief ich die zwei Straßen zu ihr.

»Sie ist oben«, sagte Charlottes Mutter, als sie die Tür öffnete.

Charlotte saß auf dem Boden in ihrem Zimmer, den Rücken ans Bett gelehnt. Sie schaute nicht auf, sagte nichts, also setzte ich mich neben sie, lehnte den Rücken ans Bett. So hatten wir dort schon als Erstklässlerinnen gesessen.

Mein Knöchel berührte ihren Knöchel, die Farben der geknüpften Fußbänder waren schon verblasst.

»Tut mir leid«, sagte ich. »Aber ich hab nichts von dir gehört. Ich hab mir Sorgen gemacht.«

Charlotte hörte auch in den folgenden Wochen nicht auf, von Berlin zu reden. Sie hörte sowieso nie auf zu reden. Je flacher das Land, desto tiefer die Seele, pflegte mein Vater zu sagen. Er fand es lustig, schließlich lebten wir im Harzvorland. Vielleicht war Charlottes Seele nicht tief genug. Das hat ein Mitschüler mich später einmal gefragt: wie man sich aus lauter Oberflächlichkeit umbringen könne.

In der Schule schwärmte sie für Markus, einen Typen aus der Parallelklasse. Nach den Herbstferien nannte er sie eklig, und dann eilte er davon, und sie stand wie angewurzelt da, mit zitternder Unterlippe. Ich legte ihr den Arm um die Schulter, fühlte die Knochen durch ihren übergroßen Pullover.

»Hast du dich mit Anton getroffen?«, fragte Charlotte.

Wir saßen wieder an ihr Bett gelehnt, vor dem Fenster wirbelten Schneeflocken. Wir blätterten in Modezeitschriften, doch ich las nicht wirklich. Diäten, Stars, Kleidung — dafür konnte ich heute keine Konzentration aufbringen.

»Ja«, sagte ich.

»Finde ich nicht gut.«

Ich hob den Kopf. »Was?«

Sie schaute mich an. Ich hatte flüssigen Lidstrich um ihre Augen gemalt. Zu viel. Sie sah wie ein Panda aus. »Ich find’s komisch, dass ihr euch ohne mich trefft.«

»Entschuldige mal …« Ich rang nach Luft, suchte nach Worten.

»Seid ihr zusammen?«

»Nein«, entfuhr es mir. Und dann noch einmal, weniger heftig: »Nein. Wir … haben nur Spaß.«

»Cool. Dann kann ich ja beim nächsten Mal dabei sein.«

Ich klappte das Heft zu. »Und wenn ich mit Anton zusammen wäre, was dann?«

Ihr Blick folgte der Bewegung meiner Hände. »Liest du das nicht mehr?«

Wortlos reichte ich ihr das Magazin und erhob mich.

»Gehst du schon?«

»Muss noch lernen. Meine Mutter wünscht sich …« Ich holte tief Luft. Wappnete mich für die Explosion »…, dass ich es an die FU Berlin schaffe.«

»Du willst nach Berlin?«, fragte sie mit blitzenden Pandaaugen.

»Meine Mutter wünscht sich das. Ich …« Ich sah mich im Zimmer um, als könne ich irgendwo die rettenden Worte finden. »Ich denke eher an Braunschweig«, schloss ich.

»Das passt auch besser zu dir«, sagte sie und schlug die Zeitschrift auf. »Dieses Low Carb, denkst du, ich sollte das mal ausprobieren?«

Ich zuckte die Achseln und schluckte säuerlichen Speichel herunter. »Ich hab keine Ahnung von so was.«

»Eh klar. Madame hat es ja nicht nötig.«

Berlin, heute

Anton blickt ins Leere. Schließlich sagt er: »Ich weiß, was du meinst. Und deshalb denke ich auch, sie sollte kein Teil unseres Lebens mehr sein.«

»Es gibt kein unseres.« Ich trinke den Wodka leer. Als ich aufstehe, dreht sich das Zimmer um mich. »Wir haben Schluss gemacht.« Ich lege die Schlüssel auf den Küchentisch. »Mach’s gut.«

Goslar, früher

Ich bin ein Einzelkind, und ich dachte, Geschwister würden einander nie verlassen. Geschwistern konnte man nicht einfach Adieu sagen, man konnte nicht mit ihnen Schluss machen. Ein Irrtum, wie sich herausstellte.

Vor Weihnachten besuchte ich Charlotte im Krankenhaus. Sie saß auf dem Bett, und wir tranken Ingwertee. Sie durfte nicht so viel trinken wie sonst, aber dieser Becher Tee vor dem Mittagessen war ihr heilig.

»Anton versteht nicht, wie hart es ist«, sagte sie. »Wie hart ich arbeite, um das zu erreichen, was ich will.« Sie strich sich mit dem Handrücken über die geröteten Augen. »Er hat gesagt, er will mich nicht mehr sehen.«

Ich blickte auf ihre Fußknöchel. Sie waren so stark geschwollen, dass Charlotte das Bändchen nicht mehr tragen konnte. Das rosablaue Bändchen, das nun von ihrer Nachttischlampe baumelte. Ich nippte am Tee, doch der Ingwer spülte den bitteren Geschmack in meinem Mund nicht weg.

»Ja, es ist harte Arbeit«, sagte ich. »Das Hungern.«

Und diesmal sagte sie nichts.

An Heiligabend war sie zu Hause, wir saßen auf dem Balkon und blickten auf die Berge, die blauen Tannen. Den Wald, in dem die Luchse und Hexen lebten.

»Wenn ich gesund bin, ziehe ich nach Berlin«, sagte Charlotte.

»Und das Abi?«, fragte ich.

»Ich kann nicht noch ein Jahr hier festsitzen.«

Ich drückte ihre kalte Hand, und dann schauten wir beide nach Osten, auf die wolkenumhüllten Berge, und sie sagte: »Aber du kannst mich vom Brocken sehen.«

Berlin, heute

Im Flur nehme ich das Einschulungsfoto von Charlotte und mir von der Wand. Warum Anton es nicht längst abgenommen hat?

Ich drehe mich um, und er steht in der Küchentür. »Was willst du eigentlich wieder in Goslar?«, fragt er.

Er ist ihr so ähnlich. Aber das ist das Letzte, was er hören will.

»Vom Brocken aus kann ich Berlin sehen«, sage ich. »Das genügt.«

Denn was ich von Berlin aus nicht sehen kann, das sind die Bäume, der Nebel, die Luchse, der Hexentanzplatz. Berlin ist so laut und wuselig, ständig geschieht etwas. Dem Harz ist das alles gleichgültig.

»Weißt du noch, Bosse?«, frage ich. Ein anderer Niedersachse, der über Berlin sang. Leise summe ich: »Und Berlin war wie New York. Ein meilenweit entfernter Ort.« Ich schaue Anton an, doch er weicht meinem Blick aus. »Ich glaube, ich verstehe jetzt, was damit gemeint ist.« Verstehe, was Charlotte nie verstand. Was die Sehnsucht bedeutet.

Anton runzelt die Stirn. »Man kann Berlin vom Brocken nicht sehen.«

»Ich schon.«

Goslar, früher

Sie sah Berlin nicht wieder. Ihre Mutter rief am Neujahrsmorgen an, und sie sagte nichts, ich hörte bloß ihren Atem in der Leitung. Ich starrte auf das Foto an der Wand, das Foto von unserer Einschulung. Charlotte und ich, Schulter an Schulter, Hüfte an Hüfte, Knöchel an Knöchel.

Ich fuhr ins Krankenhaus und stand wie erstarrt im Zimmer, während die Mutter Charlottes Sachen zusammenräumte. Auf dem Nachtschrank lag der giftgrüne Apfel, den ich ihr an Silvester mitgebracht hatte.

Berlin, noch

Die Zugbremsen lösen sich zischend, und an der Scheibe zieht das blaue Schild vorbei. Das gleiche blaue Schild, das an jedem Bahnhof in Deutschland hängt, in Berlin aber immer ein bisschen blauer aussieht.

Vom Bahnhof in Berlin aus kann ich alles sehen: die Leute, die Tauben, die Farben. In Goslar werden es die Berge sein, die Kirchtürme. Ein Sehnsuchtsort. Ich komme nach Hause.

Ronja Gerdes, Fotografin: Lea Schubert

Ronja Gerdes,

tagsüber Psychologin, nachts Autorin, interessiert an verdammt guten Menschen, Grenzgängerin zwischen Fantasie und Wirklichkeit, Wortkriegerin. Vergangenheit: wurde 1995 in Hamburg geboren und studierte in Braunschweig. Gründete „Die Stille“, eine Literaturzeitschrift von und für Studierende. Gegenwart: lebt, forscht und schreibt in Magdeburg. Veröffentlicht deutsch- und englischsprachige Kurzgeschichten in Anthologien und Zeitschriften, arbeitet mit den Autorinnen Cel Silen und Ann Ja im Autorinnenkollektiv „FantasyMania“ an einem Steampunk-Projekt.